Enricos Reisenotizen
Der Stollen der Erinnerung in Steyr
Ich höre bereits wieder die Stimmen: „Warum fängt sie damit schon wieder an?" „Man soll doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen!" „Das hat ja heute nix mit damals zu tun!" „Immer diese Linkslinke Erinnerungskultur"….
Und ich bin trotzdem anderer Meinung und hoffe, dass ihr den Artikel trotzdem weiterlest und – wenn ihr einmal Steyr besuchen solltet – auch dem Stollen der Erinnerung einen Besuch abstattet..
Ich komme gerade gut gelaunt vom Hauptplatz der Stadt und sehe am Ufer der Steyr Richtung Museum Arbeitswelt eine offene Tür, die direkt in den Felsen unter das Schloss führt. Neugierig wie ich bin, muss ich da natürlich meine Nase hineinstecken. Allerdings komme ich an diesem Tag zu spät – der Stollen – und damit die Ausstellung – schließt gerade. Aber ich werde auf den nächsten Tag vertröstet und verspreche zu kommen.
Im Museum Arbeitswelt ist der Treffpunkt für alle jene, die an einer Führung im Stollen der Erinnerung teilnehmen möchten. Hier bezahlt man den Eintritt (derzeit 7 Euro, mit Führung 9 Euro) und geht dann mit der FührerIn die paar Schritte über den Museumssteg zum Stollen hinüber. Ich empfehle euch auf jeden Fall den Stollen mit einer Führung zu besuchen. Ich glaube, erst dann werden die Geschichten und die Schicksale richtig lebendig und man kann auch noch jede Menge fragen.
Das Interesse ist an diesem Tag nicht besonders groß: Wir sind nur zu zweit plus Führerin. Im Stollen bekommen wir dann sofort einen Helm aufgesetzt – ohne diesen darf nicht besichtigt werden. Obwohl es draußen sommerlich warm ist, hat es hier im Stollen gerade mal um die 10 Grad und es ist ziemlich feucht. Unsere Führerin hat extra einen kleinen Fensterwischer mitgebracht, um die beschlagenen Tafeln zu reinigen, damit wir auch alles lesen und gut sehen können.
Der Stollen, der am 25.10.2013 (wieder) eröffnet wurde 140 Meter lang unter dem Schloss Lamberg in Hufeisenform in den Fels gegraben. Es ist ein ehemaliger Luftschutzbunker, der ab 1943 von KZ-Häftlingen errichtet wurde, in dem die Geschichte Steyrs zur Zeit des Nationalsozialismus erzählt wird.
Bereits beim Eintreten beginnt man nicht nur durch die Temperatur und das feuchte Klima zu frösteln. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, mit seinen Kindern mit vielen anderen hier bei einem Luftangriff warten zu müssen, ob man wieder unbeschadet heraus kommt?
Was muss es aber auch für eine Anstrengung gekostet haben, diesen Stollen in den Berg zu hauen?
Und wieder frage ich mich, wie konnte es dazu kommen. Auch das erklärt uns die Führerin: Es war die Zeit der großen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit in den 1930er Jahren. Die meisten Menschen hier in Steyr hatten ihre Arbeit verloren, sie waren – wie es damals hieß – ausgesteuert. Das bedeutete, sie bekamen auch vom Staat keinerlei Hilfe mehr. Es gab damals eben keine Notstandshilfe, keine Sozialhilfe. Die Menschen wurden sich selbst überlassen. Viele wussten nicht einmal wovon sie ihre Kinder ernähren sollten.
In dieser Zeit begannen sich nun die Nationalsozialisten um ihre „Mitbürger" zu kümmern. Sie versprachen Arbeit und damit wieder ein menschenwürdiges Leben und sie unterstützten ihre Mitglieder, sodass auch viele vor der Entscheidung standen, entweder Mitglied einer Organisation zu werden, die dem jeweiligen vielleicht gar nicht so nahe stand, oder weiter zu hungern. Da wurde dann schon mal weggesehen, wenn andere nicht menschenwürdig behandelt wurden, wenn man schon nicht glaubte, dass einzig und alleine eine Menschengruppe (die Juden) an all dem Ungemach Schuld sei.
Mit dem „Anschluss" 1930 erfolgte bald der Ausbau der Steyr-Werke zu einem großen Rüstungsbetrieb. Arbeit war bald wieder vorhanden und es wurden mehr und mehr Arbeitskräfte gebraucht: Tausende ZwangsarbeiterInnen und KZ-Häftlinge aus vielen europäischen Ländern wurden in Steyr eingesetzt. Sie mussten allerdings nicht nur in der Rüstungsindustrie arbeiten, sondern auch auf Baustellen, in der Landwirtschaft, in Handwerksbetrieben und in Privathaushalten.
Am Stadtgebiet von Steyr entstand das KZ Steyr-Münichholz, das später kaum jemand gekannt haben wollte, was allerdings ein Ding der Unmöglichkeit war.
Erst vor kurzem wurden die letzten Teile der KZ-Baracken abgetragen und zerstört, sodass heute nichts mehr – außer diese Ausstellung – daran erinnert. Ein Fehler, wie ich meine.
Aber es hat auch in meinem Heimatbezirk Floridsdorf recht lange gedauert, bis ich mitbekommen habe, dass auch hier eine Außenstelle des KZ Mauthausen war und es hat noch länger gedauert bis man versteckt neben dem Bezirksmuseum einen Gedenkstein errichtet hat. Daher gilt auch für mich: Wenn man im Glashaus sitzt, soll man nicht mit Steinen werfen. Und weder meine Eltern noch meine Großeltern haben je davon gesprochen …
Die Ausstellung schildert anhand von Fotos, Dokumenten, Zeichnungen, Originalgegenständen und ZeitzeugInnenberichten das Leben und das Schicksal dieser ZwangsarbeiterInnen und Häftlingen. Unmenschlich müssen die Bedingungen gewesen sein, menschenverachtend die Behandlung. Berichte von ZeitzeugInnen geben einen Einblick in den Alltag, der durch den Rassismus der Bevölkerung geprägt war.
So findet sich z.B. eine Anweisung, wie die Zwangsarbeiter aus Polen zu behandeln seien.
Unter dem gezeichneten Bild findet sich folgender Text:
„Der Einsatz von Polen in der Wirtschaft und Landwirtschaft darf nicht die selbstverständlichen Grenzen der Zurückhaltung in Vergessenheit geraten lassen. Nur der deutsche Volksgenosse gehört in unsere Tischgemeinschaft"
Wie viele Mitbürger würden sich denn heute dieser Meinung im Angesicht der Flüchtlingsbewegung wieder anschließen, wenn man das Wort „Polen" durch „Afghane" oder „Afrikaner" ersetzen würde?
Es werden in der Ausstellung größtenteils Einzelschicksale erzählt, aber gerade durch diese Erzählweise kann man das Schicksal der Personen nachvollziehen. Wie hätte man wohl selbst gehandelt? Als Mutter oder Vater, als Arbeitskollege, als Mithäftling? Hätte man selbst den Mut gehabt sich gegen das grausame und menschenverachtende System zu stellen? Hätte man wenigstens ein bisschen geholfen? Oder wäre man der Mitläufer an vorderster Front gewesen?
Und dennoch: Es hat diese mutigen Menschen auch gegeben – auch in Steyr gab es einen Widerstand.
In der Ausstellung erfährt man auch über die Verbrennung von 4.500 Häftlingsleichen im Krematorium Steyr, den Todesmarsch der ungarischen Juden, aber auch von der Befreiung am 5. Mai1945, einiges über die Täter, den Widerstand und was in und an Erinnerung geblieben ist.
Es ist ein wichtiger Ort, eine wichtige Ausstellung – wer in Steyr ist, sollte die Zeit nutzen und den Stollen der Erinnerung, aber auch das Museum Arbeitswelt (beide hängen zusammen) besuchen. Es schadet nicht, auch im Urlaub einmal inne zu halten und nachzudenken. Schon gar nicht in Zeiten wie diesen, wo es wieder salonfähig zu werden scheint, bei Menschen an unterschiedliche Klassen zu denken.
Daher möchte ich mit dem Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 schließen, der auch am Ende der Ausstellung den Besucher erinnert:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren"
Zum Abschluss noch einige Hinweise:
- Der Besuch der Ausstellung wird für Jugendliche ab 14 Jahre empfohlen.
- Im Stollen ist es wirklich kühl – um 10°C – und feucht, auch im Sommer. Nehmt die entsprechende Kleidung mit – eine Weste oder ein Pullover schaden nicht.
- Es herrscht Helmpflicht im Stollen. Die Helme erhält man im Museum Arbeitswelt oder von der FührerIn.
- Das Museum ist für EinzelbesucherInnen nicht immer geöffnet. Bitte erkundigt euch hier über die aktuellen Öffnungszeiten und wann Führungen durchgeführt werden: http://museum-steyr.at/besuch-planen/
- Im Museum Arbeitswelt kann man sich telefonisch unter +43 7252 77 351-18 oder unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! für Führungen anmelden.
4400 Steyr, Berggasse 2
http://museum-steyr.at/ausstellung-2/stollen-der-erinnerung/
Hingehen. Anschauen. Nachdenken.
Related Posts
By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://reisenotizen.ask-enrico.com/